Staatsbürgerschaft und Staatenlosigkeit unter der europäischen Lupe
Wer die österreichische Staatsbürgerschaft erwerben will, muss grundsätzlich seine bisherige Staatsbürgerschaft zurücklegen. Bei Erfüllung sämtlicher anderer Voraussetzungen bekommt man einen Zusicherungsbescheid und wird eine Frist für die Zurücklegung der alten Staatsbürgerschaft eingeräumt. Sind die Voraussetzungen (mit dabei einer Ausnahme) später nicht mehr erfüllt, so kann die Zusicherung widerrufen werden. Die Aussicht auf einen österreichischen Reisepass ist damit vorerst verloren. Die „alte“ Staatsbürgerschaft, wenn sie bereits zurückgelegt wurde, lebt aber nicht wieder auf – man ist staatenlos.
Dies passierte JY, einer Dame estnischer Herkunft. Nach Erhalt ihres Zusicherungsbescheides legte sie ihre estnische Staatsbürgerschaft zurück. In der Folge wurden der Behörde jedoch mehrere Verkehrsübertretungen – darunter das Lenken eines Kfz in alkoholisiertem Zustand – bekannt, die sie teilweise bereits vor Erhalt der Zusicherung begangen hatte. Die Zusicherung wurde widerrufen, JY stand staatenlos da.
Eine Beschwerde an das Verwaltungsgericht Wien brachte JY vorerst keinen Erfolg. Besonders bitter war dabei, dass sie das Gericht auch mit einem Verweis auf EuGH-Entscheidung C‑135/08 Rottmann nicht überzeugen konnte. Nach dieser Entscheidung ist die zur Staatenlosigkeit führende Rücknahme einer Einbürgerung nur dann zulässig, wenn dabei der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gewährt bleibt. Dabei ist unter anderem auf die Folgen des Widerrufs für die Situation der Betroffenen und ihre Familienangehörigen zu achten. Diese Entscheidung, so das Verwaltungsgericht, betrifft allerdings den Verlust der Unionsbürgerschaft, und JY war als staatenlose eben bereits keine Unionsbürgerin (Bürgerin eines EU-Mitgliedstaates) mehr.
Das Verfahren ging zum Verwaltungsgerichtshof und endete letztendlich vor dem EuGH, dem höchsten Gerichtshof der EU. Hier hat der Generalanwalt – eine Art Experte, der die Richter des EuGH mit Rechtsmeinungen unterstützt – nunmehr seine Schlussanträge erstattet. Demnach fällt eine Situation wie die gegenständliche, dh in welcher eine Person auf ihren Status eines EU-Mitgliedstaats verzichtet um Staatsbürgerin eines anderen Mitgliedstaats zu werden, sehr wohl unter das Unionsrecht. Eine Regelung wie die österreichische, wobei die Zusicherung unter gewissen Voraussetzungen widerrufen werden kann, ist zwar grundsätzlich zulässig, muss aber mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit vereinbar sein.
Konkret hatte JY mehrere Verwaltungsübertretungen im Straßenverkehr begangen. Derart schwer, dass sie zu einem Entzug ihres Führerscheins führen hätten können, waren diese jedoch noch nicht. Dass wegen diesen Übertretungen dennoch die Zusicherung widerrufen wird und so der Verlust ihres Status als Unionsbürgerin „besiegelt“ wird, steht für den Generalanwalt mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht im Einklang.
Mit anderen Worten war und bleibt es möglich, dass die Zusicherung einer Staatsbürgerschaft widerrufen wird, selbst wenn man bereits die alte Staatsbürgerschaft zurückgelegt hat. War man vorher allerdings Unionsbürger, so wird die Behörde laut dem Generalanwalt strenger zu prüfen haben, ob jene Tatsachen, welche zum Widerruf führen, wirklich die hierdurch „endgültige“ Staatenlosigkeit, die hierdurch entstehen würde, rechtfertigen.
Es ist nunmehr noch die Entscheidung des EuGH abzuwarten. In der Praxis folgt dieser oft den Ausführungen des Generalanwalts.
Die Schlussanträge sind mir übrigens deshalb aufgefallen, weil ich im Rahmen meiner Arbeit bereits einmal auf das Erkenntnis des Verwaltungsgerichts Wien gestoßen bin. Schon damals war dessen Argumentation – jedenfalls was die Anwendung des Unionsrechts anbelangte – für mich zwar technisch nachvollziehbar, in ihrem Zynismus jedoch kaum zu übertreffen.
Erwähnte Judikatur: VGW Wien vom 23.01.2018, VGW-152/065/1151/2017; EuGH vom 02.03.2010, Rs C‑135/08 Rottmann; VwGH vom 13.02.2020 zu Ra 2018/01/0159; Schlussanträge Szpunar vom 01.07.2021 zu Rs C‑118/20 Wiener Landesregierung.